Magie oder Mode? Sie stehen immer öfter in der Natur rund um die Geiseltalseen: Mehrfach gestapelte Steine in Wäldern, am Wegesrand oder am Ufer.
Und auch wenn die kleinen Häufchen aus Steinen aussehen, als wären sie aus einer Laune der Natur entstanden, so sind die Steinhaufen tatsächlich von Menschenhand geschaffen – Steinmännchen. Seit der Corona-Pandemie verbringen mehr Menschen Zeit in der Natur und seit dieser Zeit hat sich auch dieser Trend augenscheinlich verstärkt ? Steine stapeln oder Englisch Sculpturing ist als Freizeitaktivität bei Kindern und Erwachsenen beliebt geworden. Mittlerweile ist dies mehr als einfach nur ein Instagram-Trend.
Ob Anhänger von Naturkulten, die auch Seelen in Steinen sehen, Einheimische, die ihre Strände verschönern wollen oder Instagram-Touristen, die sich ihre perfekte Fotokulisse bauen: Steine pyramidenförmig aufeinanderzutürmen, ist schwer in Mode. Die Häufchen basieren optisch auf spirituellen Steinbauten aus Nepal, sind aber bei den meisten Menschen westlicher Kulturen vor allem als ästhetische Motive begehrt.
Die Meisten wissen nicht, dass die Steintürmchen im Ur-Sinne sogar einen Zweck haben, der über das Ästhetische hinaus geht: Auf abgelegenen Wanderwegen dienen sie Reisenden zur Orientierung – gelten als älteste Form des Wegweisers. Auf den Inseln Südeuropas findet man in der Natur kaum Wegpunkte. Zwischen Felsen und ununterscheidbaren Gestrüpp sind die gestapelten Steine fast schon essenziell, um den richtigen Weg finden zu können. Die Eskimos nennen sie Inuksuk, in entlegenen Himalaja-Regionen dienen sie ebenso als überlebenswichtige Markierungen von hohen Pässen wie in den Anden oder den Alpen. Doch Sculpturing hat sich längst zu einer eigenen Kunstform entwickelt. In Esoterikseminaren kann man Stapelkurse buchen, es gibt sogar Weltmeisterschaften im Steineschichten. Durch Tik-Tok, Instagram und Facebook etc. ist das Turmbauen mittlerweile epidemisch geworden.
Wie ist dieser Trend einzuordnen? Steinestapeln ist seit jeher ein spirituelles Ritual: In Skandinavien und Island dient der Bau der Steinmännchen traditionell dem Schutz vor Trollen, im buddhistisch geprägten Volksglauben von Tibet bitten die Menschen gute Geister, sich in den Steinmännchen einzunisten. Steinmännchen in Griechenland gehen auf die Verehrung von Hermes, seines Zeichens Götterbote und Schutzgott aller Reisenden. Um Wanderer vor unwegsamem Gelände oder großen, steinernen Hindernisse zu bewahren, entfernte Hermes die Steine von den Wegen und legte diese aufeinander gestapelt am Wegrand nieder. Die Tschuktschen im Nordosten Sibiriens türmen Steinhaufen auf, um ihren Verstorbenen zu gedenken. Die Ureinwohner Nicaraguas sehen in Steintürmen die Hoffnung, dass jeder neu aufgelegte Stein weniger Hunger und Not bedeutet.
In unserer westlichen Esoterik hat sich das Motiv des gestapelten Steinhaufens inmitten von unberührter Natur zum Symbol für innerer Ruhe, Balance und Kraft entwickelt. Sculpturing schenkt tiefe Befriedigung, wirkt meditativ und inspirierend. Und wir schaffen uns damit auch gleich einen starken Kraftplatz. Beim Halten der Hand über dem Steinmännchen weist uns ein feines Kribbeln darauf hin, dass sich hier etwas tut.
Steinmännchenbauen ist ähnlich dem Bäume-Ritzen. Man will so zeigen: Ich war hier. Allerdings bleibt man, anders, als wenn man seinen Namen in einen Stamm ritzt, beim Sculpturing anonym. Es ist also eher eine symbolische Kollektivtät. Wanderer, die einen Strand voller Steinmännchen entdecken, lassen sich von dem Vorgefundenen anstecken, um sich unterbewusst einer imaginären Großgruppe zugehörig zu fühlen. So sind die an unseren Geiseltalseen anzutreffenden Steinmännchen von ihren spirituellen oder praktischen Vorfahren weitestgehend entkoppelt. Es gibt keinen tieferen Sinn, den Erschaffern geht es darum, dazuzugehören und vielleicht auch, besonders zu sein, in dem sie ein herausragend schönes oder statisch aufwändiges Steinmännchen errichten. Auch durch die sozialen Medien weiter potenziert. Letztlich geht es oft ums Fotomotiv bei Instagram und Co, auf dem man zeigen kann: Seht ich war am Geiseltalsee und habe etwas „Besonderes“ hinterlassen. Man tut es, weil andere es tun und ordnet sich dem Ritual unter.
Sculpturing – wie macht man das ? Steinmännchen wachsen, indem Menschen immer wieder Steine haufenförmig aufeinander legen. So vielfältig, wie die Motivation hinter dem Brauch, Steinmännchen zu errichten, selbst ist, sind ihre Formen und auch die dafür verwendeten Steine. Genutzt werden Steine, die vor Ort zu finden sind, wie bspw. Basalt, Granit, Gneis, Sand– oder Kalkstein. Dabei nehmen die Figuren die verschiedensten Formen an; die meisten haben die Gestalt von Säulen oder sind statisch bedingt spitz nach oben zulaufend.
Die Steine der Figuren werden schichtweise so aufeinandergestapelt, dass keine Bindemittel oder anderweitige Fixierungen nötig sind.
Ebenso vielseitig wie die Gestalt der aufeinander gestapelten Steine sind auch Dimensionen der Steinmännchen. Einige Steinhaufen sind kniehoch, während andere mannshoch sind. Befeuert von der Sage Unheil abzuhalten indem jeder vorbeiziehende Wanderer einen weiteren Stein dazulegt.
Steine aufeinander zu Türmen zu stapeln, als Spiel mit der Balance und der Statik, hat sich als weiterer Trend etabliert, der vor allem in den sozialen Medien gefeiert wird.
Aber nicht nur zu Land, auch im Wasser der Geiseltalseen sieht man mittlerweile Steinmännchen.
Landart oder Landplage? So geben Umweltschützer zu bedenken dass Steinmännchen die Vegetation schädigen können, da ihre Errichtung seltenen Insekten die Lebensgrundlage entziehen und die Erosion begünstigen könnte. Karge Uferabschnitte voller loser Steine sehen meist nicht gerade danach aus, als würden sie viele Tiere und Pflanzen beherbergen. Die Gefahr besteht, dass die Skulpturen in ohnehin empfindliche Ökosysteme eingreifen und Lebewesen bedrohen, die speziell an diese Oberflächen angepasst sind. Die Steine bieten einen Lebensraum für genügsame Pflanzen, und damit auch für Insekten und kleine Tiere wie Eidechsen und andere Reptilien, die dort Nahrung, Brutstätten und Zuflucht vor Angreifern finden. Besonders am Strand können empfindliche Ökosysteme geschädigt werden, wenn man Steine aus dem Boden reißt.
Wer also die Natur schützen möchte, sollte die Steine liegen lassen, auch wenn die Türme hübsch anzuschauen sind – und sich stattdessen lieber am Anblick der Wasserflächen und der imponierenden Hochhalden um unsere Seen erfreuen. Biologen würde ein „Stein“ vom Herzen fallen, wenn sich die Künstler etwas zurückhalten würden.
„Der Mensch ist umso reicher, je mehr Dinge er liegen lassen kann.“ Das gilt in diesem Fall auch für Steine.
Steintürme abbauen: So geht es richtig. In vielen Teilen der Welt versprechen sich Wandernde Glück auf ihrer Reise und im Leben, wenn sie die Steinmännchen einfach nur berühren. Wer aber aufgrund seiner Einstellung oder zur Gefahrenverhütung diesem Trend entgegenwirken möchte, der möge Folgendes beachten !
Stoßen Sie die Steinmännchen nicht einfach um, sondern verteilen Sie die Steine einzeln und behutsam in der Gegend. Nehmen Sie einen Stein nach dem anderen in die Hand und verteilen sie sie nach dem Zufallsprinzip wieder dort auf dem Boden, wo sie vermutlich gelegen haben. Dabei sollte man besonders die ungeschützten und für Erosion anfälligen Stellen aus Sand abdecken.